Gestern. Bahnhof Itzehoe. Eine Durchsage: Wegen eines angekündigten Suizids verzögert sich die Weiterfahrt bis auf weiteres. – Ein Moment der Stille im Abteil. Hier und da ein leises Aufstöhnen. Bei mir auch – hatte ich doch eigentlich in Hamburg einen Termin! Andere wollten in Urlaub, waren auf dem Weg zur Schule, zum Arbeitsplatz, zu einer Behörde. Und doch blieb es erstaunlich ruhig. Gedanken waren bei dem, der Unbekannten, der/die dem Leben ein Ende setzen wollte. Was konnte geschehen sein: Liebeskummer? Eine Schuld, die untragbar scheint? Eine riesige Einsamkeit, die keiner merken wollte? Das Gefühl, nicht akzeptiert zu werden und keinen Fuß mehr auf den Boden zu bekommen? Angst zu versagen oder das Gefühl versagt zu haben? Jemand, der kapituliert angesichts der Katastrophenbilder von Krieg und Zerstörung? Ein persönlicher Schicksalsschlag, der das Leben hier und jetzt nicht mehr aushaltbar erscheinen lässt? Vielleicht etwas ganz anderes? So waren unser aller Gedanken wohl für einige Weile bei diesem unbekannten Menschen in seiner vielleicht dunkelsten Stunde. Irgendwann war klar: unser Zug fährt wieder zurück. Aber auf dem Nachbargleis geht es weiter. Richtung Hamburg. – Ich kam eine Stunde später als geplant an, aber mit meinem Termin ging noch alles klar. Und was war mein Termin, wenn ein ganzes Leben auf dem Spiel steht. Wie es ausging? Ich weiß es nicht. Ich hoffe gut. Für den Moment und für die weitere Zukunft. Jetzt, am anderen Morgen, schaue ich in den hellen Himmel, denke an den, die Unbekannte. Das Leben ist ein so kostbares, schönes Geschenk. Aber manchmal wird alles so viel. Hoffentlich können wir das rechtzeitig spüren, wenn es jemand neben uns so ergeht! Auch wenn wir die Einsamkeit eines letzten Entschlusses längst nicht immer verhindern können … Gott, komm du in alle Verzweiflung dieser Welt! –
Und ihr – bleibt gesegnet und behütet!
Foto: Tabea-Estelle Rohrmann – Blick von ihrem Arbeitsplatz aus über die Alster in Hamburg